Bauen und toben in der Stadt
Die Stadt hat eine wichtige Rolle, um Naturerfahrungen zu ermöglichen: als Spiel- und Entdeckungsraum, zum Erinnern, Besinnen und Erholen.
Die Natur in der Stadt bietet Kindern die Möglichkeit sich auszutoben. Kinder nutzen öffentliche Parks, Wälder, „Gstätten“ (oder Brachflächen) und Flüsse, um zu klettern, zu rennen, zu erforschen und ihre Kreativität auszuleben. Diese Art der Aktivitäten steht im harten Konkurrenzkampf mit den digitalen Angeboten: Der aktuellen KIM-Studie (Kindheit-Internet-Medien, durchgeführt vom Medienpädagogischen Forschungsverband Südwest) zufolge, in der rund 1200 sechs bis 13 Jahre alte Kinder sowie deren Erziehungsberechtigte zum Stellenwert von Medien und Freizeitaktivitäten im Alltag befragt wurden, sehen nahezu alle Kinder regelmäßig fern. Sie schalten das TV-Gerät täglich oder zumindest ein- oder mehrmals wöchentlich ein.
Nachhaltige Prägung
Wird die Natur sehr früh mit positiven Gefühlen verknüpft, werden darauffolgende Erfahrungen aus dieser vorgeprägten Sichtweise wahrgenommen und einsortiert. Welche Orte habe ich bevorzugt? Was habe ich als Kind am liebsten draußen gespielt? Dass Naturerfahrungen sich positiv auf die Entwicklung von Kindern auswirken, ist durch Studien von Späker et al. Oder Gebhard et al. gut belegt. Das Tageslicht hat eine vitalisierende Wirkung sowie positive Auswirkungen auf Befindlichkeit, Konzentration und Biorhythmus. Der Wert der Naturerfahrungen liegt darin, dass Kinder hier ein relativ großes Maß an Freiraum haben, den Augen von Eltern und Erziehern entzogen. Als Gegengewicht zum durchgetakteten Leben. Ganz klar beurteilen jüngere Menschen Brachflächen positiver als ältere Personen.
Resonante Beziehungen
Für Erwachsene hat die Natur eine andere Bedeutung. Für sie ist sie oft eine Quelle der Besinnung, Erinnerung und Erholung. Philosophische und später naturwissenschaftliche Strömungen haben in den vergangenen Jahrtausenden das Verhältnis des Menschen zur Natur geprägt: Vom Naturverständnis der Griechen, über Natur als eine Schöpfung Gottes bis zum heutigen Naturschutzgedanken. Der Soziologe und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa stellt mit seiner Resonanztheorie ein neues Gegenkonzept zur Entfremdung des Menschen vor, indem er alltägliche Erfahrungen gelingender, „resonanter“ Weltbeziehung favorisiert. Rosa meint: „Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung. Eine bessere Welt (…) lässt sich daran erkennen, dass ihr zentraler Maßstab nicht mehr das Beherrschen und Verfügen ist, sondern das Hören und das Antworten.“
Was heißt hier Resonanz? Horizontale Resonanzen finden zwischen zwei (oder mehr) Menschen statt, so in Liebes- und Familienbeziehungen sowie Freundschaften. Als diagonale Resonanzachsen werden Beziehungen zu Dingen und Tätigkeiten bezeichnet, als vertikale Resonanzachsen Beziehungen zu den großen Elementen wie die Natur, die Kunst, die Geschichte oder die Religion. In allen diesen Zusammenhängen sind intensive Erfahrungen möglich, die das Leben als intensive Begegnung oder Beziehung um seiner selbst willen erfahrbar machen. Eine ‹resonante› Weltbeziehung widerspricht einer Haltung, deren Grundimpuls das grenzenlose Streben nach Verfügbarkeit ist.
Natur in die Stadt reinplanen
Der Zeitgeist lautet: Im urbanen Raum soll mit der Natur sensibel umgegangen werden. Mehrere Städte versuchen zunehmend, mehr städtische Wälder zu sichern oder zu schaffen, um Klimawandelanpassungen vorzunehmen. Die Überhitzung der Stadt abschwächen, das Versickern von Regenwasser erhöhen, das Mikroklima und die Luftqualität verbessern. Zum Beispiel kümmert sich der Naturschutzbund Oberösterreich in der Stadt Linz um Brachflächen.
Auf dem ehemaligen Nordbahnhof-Gelände in Wien entsteht die Natur- und Parkanlage „Nordbahnhof – Freie Mitte“ mit insgesamt zehn Hektar, unter anderem mit einer Picknick- und Drachenwiese, einem Gemeinschaftsgarten, einem Obstgarten und eine 1,3 Hektar große „Stadtwildnis“. In einer Umfrage in der SolarCity Linz, einem Außenbezirk der Stadt Linz, wurden 153 Anwohner:innen (mehr als zwei Drittel waren Erwachsene) zu ihrer Beziehungen zu dem angrenzenden Natura 2000-Schutz-gebiet Traun-Donauauen und einem gepflegten Landschaftspark befragt.
Die Wildnis innerhalb der geschützten Flächen wird von der Mehrheit geschätzt; aber nur ein Drittel nutzt diese. Der neu errichtete Landschaftspark hingegen wird von mehr als zwei Dritteln genutzt. Die Studienautoren Jürgen Breuste und Andreas Astner von der Universität Salzburg empfehlen, den dort wohnenden Menschen die Vorteile der vielfältigen Natur in ihrer Umgebung bewusst zu machen. Dies kann durch eine Einladung zur Nutzung der Schutzgebiete unterstützt werden, zum Beispiel durch eine klare Kommunikationsstrategie oder eine bessere Einbindung der Bewohner:innen.
Mehr Mut zu Wildnis
Zahlreiche Fachleute aus Soziologie und Stadtplanung sprechen sich für mehr Wildnis in der Stadt aus. Karl Ganser, deutscher Geograf und Stadtplaner, forderte mehr Mut zum Risiko, denn Wildnis ist Risiko. Seiner Meinung nach verhalten sich spielende Kinder in naturbelassenen „wilden“ Räumen kreativer als in konventionell gestalteten Grünanlagen. Seine Conclusio: „Erlebnisse mit der Natur – auch auf einer nur zwei Hektar großen Fläche – können den Heranwachsenden für sein ganzes Leben prägen.“
In die gleiche Kerbe schlägt Hans-Joachim Schemel, deutscher Landschaftsökologe und Stadtplaner, mit seinem Konzept der städtischen Naturerfahrungsräume. Das sind „wilde“ Flächen im Wohnumfeld, die weitgehend ihrer natürlichen Entwicklung überlassen werden, mindestens ein Hektar groß sind, auf der Kinder und Jugendliche frei, ohne pädagogische Betreuung und ohne Geräte spielen können. H.-J. Schemel meint etwas pointiert: „Als Gesellschaft ernten wir, was wir gesät haben. … Wir sorgen uns im Rahmen des Naturschutzes um artgerechte Lebensräume unserer Tiere und Pflanzen. Diese Arten verkümmern …, wenn man ihnen lebensfeindliche Verhältnisse zumutet. Aber wir Menschen missachten … in der Freizeit unsere biologischen Abhängigkeiten. Wir brauchen für unsere physische und psychische Gesundheit den Kontakt mit der Natur“. Auch und gerade in der Stadt. Stadt-Wildnis-Erlebnisräume lassen Naturerfahrungen zu, die sonst nur fernab von Städten zu erwarten wären. Sie zu planen und zu gestalten ist eine neue Aufgabe des Stadt-Naturmanagements.