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Leben im Menschennest

Fledermaus in Großaufnahme

Andrea Grill ist Biologin und vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin. In der neuen Lichtung gibt sie Einblick in nächtliche Stadtausflüge in Wien und was es dabei zu entdecken gibt.

An einem warmen Frühsommerabend wollte mein Sohn unbedingt noch einmal ins Freie. Es dämmerte bereits, und er hätte längst im Bett sein sollen. »Ich will auf Expedition«, sagte er beharrlich, und schließlich erklärte ich mich bereit, mit ihm auf die Suche nach »wilden Tieren« zu gehen. Wir leben in einer Stadt mit fast zwei Millionen Einwohnern, und zwar mittendrin. Dort, wo die Böden versiegelt sind, pro hundert Meter Gehsteig dreißig Autos parken und fünfzig vorbeifahren; wo es mehr Hunde gibt als Tauben und eine Aussicht auf rote Schindeldächer mit Schornsteinen, Satellitenschüsseln und ab und zu der Silhouette eines Krans als Glücksfall gilt.

Wo die wilden Kerle wohnen

Mein Sohn war aber sicher, es gäbe draußen »wilde Tiere«, die nur darauf warteten, von uns entdeckt zu werden. Wir gehen also auf Expedition. Wir haben Ausrüstung dabei, eine Taschenlampe und einen Fledermausdetektor, den wollte er unbedingt mitnehmen. Wir tragen Flipflops, kein Gras kommt uns hier zwischen die Zehen, wir riskieren nicht, auf Schlangen oder Schnecken zu treten. Wir gehen auf Asphalt, sobald wir den kleinen Park betreten, der tagsüber vor allem Spielplatz ist, teilweise auf Kies und Staub; jetzt geraten uns ab und zu kleine Steine zwischen Fuß und Plastiksohle.

Den Fledermausdetektor besitze ich aus der Zeit, als ich für angehende Biolog:innen das Fach «Methoden der Freilandökologie» unterrichtete, in dem ich zeigte, wie man Tiere und Pflanzen aufspürt, bestimmt, vermisst und zählt. Mit den Studierenden fuhr ich dafür immer in Gebiete außerhalb der Stadt, die eine kleine Wildnis suggerierten, etwas vom Menschen relativ In Ruhe-Gelassenes. Mein Kind wollte den Detektor seit Langem ausprobieren, wir waren aber nie dazu gekommen, in das In-Ruhe-Gelassene aufzubrechen.

Nun stehen wir in einem fast menschenleeren Park, es ist still, die Geräusche der Autos werden von den umliegenden Häusern absorbiert, nur ein paar Jugendliche kuscheln in der Hütte, die den Einstieg zur steilen Rutsche bildet, ein Obdachloser sitzt auf einer Bank und schaut in die aufkommende Nacht, zwei schweigende Damen führen ihre Katzen angeleint spazieren.

Es geht los

Wir setzen uns auf eine Bank und schalten den Detektor ein. Das Gerät überträgt von Fledermäusen ausgestoßene Ultraschallwellen in für uns wahrnehmbare Frequenzen, auf diese Weise könnten wir sie aufspüren, auch wenn wir sie nicht sehen. Fledermäuse finden sich in ihrer Umgebung mittels Echolotung zurecht, sie senden andauernd Ultraschallwellen aus, sobald diese Wellen an Dinge oder Lebewesen stoßen, werden sie reflektiert; aus der Art, wie die Wellen zu ihnen zurückgeworfen werden, können die Fledermäuse ablesen, wie weit Dinge, Pflanzen oder Tiere entfernt sind, ob sie stillstehen oder sich bewegen, und zwar innerhalb von Millisekunden.

Spaziergang im Halbdunklen

Ich bin mir sicher, wir werden unverrichteter Dinge nach Hause gehen. Wir checken die verschiedenen Wellenlängen ab. Nichts. Mein Kind schlägt vor, im Park herumzugehen. Rauschend und klickend – das Gerät verstärkt nämlich alle Ultraschallwellen aus der Luft – spazieren wir durch die Halbdunkelheit. Plötzlich änderte sich das Geräusch. Da ist etwas! Pipistrellus pipistrellus, eine Zwergfledermaus! Da jede Art ihre eigene Frequenz hat, können wir sogar feststellen, um welche es sich handelt. Mein Sohn jauchzt. Jetzt, da wir sie gehört haben, sehen wir sie auch. Hoch zwischen den Baumkronen flitzen sie hin und her, umrunden im schnellen Zickzack die Straßenlaternen auf der Jagd nach Insekten. Die Expedition war ein voller Erfolg.

Klein wie eine Zündholzschachtel

Wie ist das möglich? Fledermäuse sind doch selten, vom Aussterben bedroht, und da finden wir sie mitten in einer Großstadt? So ist es und so ist es auch nicht. Zwergfledermäuse gehören zu den Arten, die sich in Menschennestern – denn nichts anderes sind Städte – wohlfühlen. Sie können sich so zusammenfalten, dass sie in eine Zündholzschachtel passen würden und sind so leicht wie ein kleiner Löffel Zucker. Sie leben in Spalten von Gebäuden, Jalousienkästen, auf Dachböden.

Für Fledermausarten, die flexibel genug sind, sich daran anzupassen, hat das Leben in der Stadt zwei Vorteile: Sie sind relativ sicher vor Fressfeinden, wie Eulen, da diese in Städten kaum vorkommen, und sie finden einen reich gedeckten Tisch an den von Menschen angebrachten Beleuchtungskörpern – eine einzige Zwergfledermaus frisst ungefähr 2000 Insekten am Tag. Um Pipistrellus pipistrellus in unseren Städten zu behalten, müssen wir also dafür sorgen, dass es ausreichend nachtaktive Insekten gibt und unsere Katzen keine Fledermäuse jagen (die Damen im Park mit ihren angeleinten Gefährtinnen verhielten sich vorbildlich), neben Singvögeln sind sie nämlich ihre bevorzugte Beute unserer kuscheligen vierbeinigen Freunde.

Nächste Expedition

Aber wer braucht Fledermäuse in der Stadt? Mein Sohn. Die nächste Expedition startet heute Abend.

Porträt Andrea Grill

Andrea Grill ist Biologin und vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin. Sie lebt in Wien. Foto: Privat

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