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Lawinengefahr: fünf Herangehensweisen zu ihrer Beurteilung

Menschen, die im Winter in den Bergen unterwegs sind, müssen die Lawinengefahr einschätzen können. Bei den Innsbrucker Hofburggesprächen am 15. März 2018 wurde die Gefahrenbeurteilung aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet.

Die Beurteilung, ob eine Schneedecke hält oder zu Tal rutscht, ist eine komplexe Aufgabe. Ob versierter Tourengeher oder Mitglied einer Lawinenkommission, die  Gefahreneinschätzung wird nicht grob voneinander abweichen. Sehr unterschiedlich sind jedoch die verschiedenen Herangehensweisen, wie es zur Beurteilung der Lawinenlage kommt. Beim Innsbrucker Hofburggespräch, das vom Institut für Naturgefahren des Bundesforschungszentrums für Wald organisiert wurde, haben fünf Referenten einen Blick auf ihre Sichtweisen gegeben.

Die fünf verschiedenen Blickwinkel in der Übersicht
(Bild: Peter Höller, BFW)

Aus der Sicht des Lawinenwarners

Der Lawinenwarner Hans Konetschny gab Einblicke in die Arbeitsweise des bayerischen Lawinenwarndienstes. Wie die österreichischen Kollegen verwenden auch die deutschen Nachbarn die europäische Gefahrenstufenskala zur Beurteilung der Lawinengefahr.

Je höher die Gefahrenstufe, desto höher ist auch die Auslösewahrscheinlichkeit. Jene Stellen, an denen die Stabilität der Schneedecke nicht ausreichend ist, werden mehr. Zugleich wird die Belastung geringer, die man aufbringen muss, um die Schneedecke zu destabilisieren. Diese Zusatzbelastung wird auch im Lawinenlagebericht angesprochen.

Um zu den entsprechenden Informationen zu kommen, nimmt der Lawinenwarndienst Bayern sogenannte Nachmittagsbeobachter zu Hilfe. Das sind Schitourengeher, die fast täglich im bayerischen Alpenraum und im benachbarten Österreich unterwegs sind. Diese Männer und Frauen bekommen vom LWD eine spezielle Ausbildung und wissen genau, welche Informationen benötigt werden. Zusätzlich beziehen die Lawinenwarner Daten aus automatischen Messstationen und regelmäßig gegrabenen Schneeprofilen.

„Die Gefahr wird oft unterschätzt, wenn man nur die Zahl im Lawinenlagebericht sieht. Doch auch wenn zum Beispiel die Zwei eine mäßige Lawinengefahr ausdrückt, beinhaltet diese Zahl auch, dass man an wenigen Gefahrenstellen auch als einzelner Schifahrer Schneebretter auslösen kann“, weist Konetschny auf die Unschärfen der Gefahrenskala hin und appelliert an die Eigenverantwortung der Tourengeher.

Lawinenwarndienst Bayern
Lawinenwarndienste Österreich
Lawineninfo Österreich

Aus der Sicht des Lawinenkommissions-Mitgliedes

Toni Mattle kann auf eine 28-jährige Karriere als Mitglied der Lawinenkommission zurückblicken. Der Bürgermeister von Galtür sieht die Kommission als wichtigen Kommunikator in kritischen Situationen. „In Galtür erwarten sich die Bürger, dass in kritischen Situationen eine E-Mail von der Gemeinde kommt. Die Leute schauen dann, ob sie die Kinder in die Schule schicken können oder nicht“, erzählt Mattle.

Damit die Gemeinde an die erforderlichen Informationen kommt, treffen sich die Kommissions-Mitglieder in der Früh. Nicht aber ohne sich zuvor in der Natur selbst ein Bild der aktuellen Schneesituation gemacht zu haben. Nachdem alle ihre Beobachtungen erzählt haben und Meinungen abgegeben worden sind, wird eine Entscheidung getroffen.

Doch nicht nur Beobachtungen und Bauchgefühl fließen in die Entscheidung mit ein. Neben der Ausbildung der Mitglieder setzt die Kommission auch auf LWD-KIP, ein Service des Landes Tirol, mit dem spezifische Informationen abgerufen werden können. Daten aus Wetterstationen und ein über die Jahre gewachsenes Archiv von Informationen über die gängigen Lawinen komplettieren den Wissens-Pool.

Für Mattle stellt sich die Herausforderung, die technischen Fertigkeiten der jüngeren Kommissions-Mitglieder mit dem Erfahrungswissen der langjährigen Mitglieder zu vernetzen.

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Bild: Toni Mattle

Gemeinde Galtür

Aus der Sicht des Bergführers

Walter Zörer hat seine Leidenschaft zum Beruf gemacht und führt Menschen seit 1990 durch alpine Landschaften. Als Bergführer trägt er die Verantwortung für die Sicherheit seiner Gäste. Zu seiner Vorbereitung gehört das Zusammentragen möglichst vieler Informationen, wenn er im Winter unterwegs ist. Nur so kann er zu brauchbaren Entscheidungen kommen.

Von der Planung mit dem Lawinenlagebericht bis zur Einzelhangbeurteilung vor Ort durchläuft er auf einer Tour viele verschiedene Entscheidungsphasen. Zörer bedient sich, wie viele seiner Kollegen, sowohl technischen Hilfsmitteln als auch der persönlichen Erfahrung, um seine Entscheidungen treffen zu können. „Ich komme immer mehr zu dem Schluss, dass keiner die Lawinengefahr 100-prozentlig einschätzen kann. Vielmehr ist es so, dass wir mit Wahrscheinlichkeiten jonglieren“, so der Tiroler.

Um diese Wahrscheinlichkeiten möglichst auf der richtigen Seite zu haben, hilft sich Zörer mit einer gründlichen Tourenplanung. Den Lawinenlagebericht zu lesen und zu verstehen, ist dabei unerlässlich. Das gleiche gilt für den Wetterbericht. Die Gruppe und das Tourenziel fließen ebenfalls in die Entscheidungen mit ein. Zu guter Letzt braucht eine Tour einen Plan B, falls unerwartete Ereignisse den geplanten Weg unmöglich machen.

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Bild: Walter Zörer (Link zu Water Zörer

Vor Ort werden die gesammelten Informationen mit der Realität abgeglichen. „Das ganze wird dann zu einem Sammelsurium an Informationen und Eindrücken. Gefahrenzeichen, Wetter, Lagebericht und so weiter werden während der Tour zu einem Bild zusammengestellt. Intuition und Bauchgefühl sind für mich ebenfalls wichtige Einflüsse für meine Entscheidungen“, lässt Zörer in seine Arbeitsweise blicken und fügt hinzu: „Aber das wichtigste ist ja, dass wir Spaß im Schnee haben.“

Aus der Sicht des Freeride-Contest-Veranstalters

Markus Kogler veranstaltet seit fünf Jahren die Open-Faces Freeride-Contests und ist Head of Security bei der Freeride World Tour. Damit sich die Fahrer beim Bewerb keine Gedanken um Lawinen machen müssen, stellt das Veranstalter-Team ein breites Sicherheitskonzept auf, dass sich auf drei Säulen stützt. Die Steilheit und Felsigkeit des Geländes, das Können der Fahrer und die Verhältnisse am Tag der Befahrung und davor spielen beim Risikomanagement die tragenden Rollen.

Um sich ein Bild über die Schneedecke am „Face“ genannten Wettbewerbs-Hang zu machen, wird der Schneedeckenaufbau den ganzen Winter beobachtet. Auch Sprengungen und die Bahnen der Lawinen werden dokumentiert. Der Lawinenlagebericht und Lo*La (Tool zur Erstellung und Verteilung von lokalen Lawineninformationen) helfen bei der Beurteilung und dienen der Sicherheit des Personals. Bei Lawinenwarnstufe 4 werden die Wettbewerbe abgesagt.

Ist bei passenden Bedingungen für den Contest zu viel Schnee im Face, wird dieser am Tag davor hinausbefördert. Oftmals reicht eine Sprengung, doch wenn sich der Riss in der Schneedecke aufgrund der dazwischenliegenden Felsen nicht fortpflanzen kann, ist Handarbeit gefragt. Dann treten Helfer Wächten ab und rutschen mit angeschnallten Schiern an einem Seil gesichert die Rinnen hinunter.

Alle Informationen, die den Fahrern zur Sicherheit dienen, werden am Tag des Bewerbes im Riders Meeting bekannt gegeben. Dabei wird im Speziellen auf die Gefahren hingewiesen und über Lawinenlage, Schneebeschaffenheit und Sperrzonen informiert. Gemeinsam mit der örtlichen Bergrettung wird zudem ein ausführliches Rettungskonzept erstellt, um im Worst Case die schnelle Versorgung eines verunfallten Fahrers zu gewährleisten. Aber letztendlich habe der Busfahrer, der die Rider zum Berg bringt, ein höheres Risiko als die Sportler, meint Kogler augenzwinkernd am Schluss seines Vortrages.

Open Faces
Freeride World Tour
Lo.La*

Aus der Sicht des Schitourengehers

Klaus Klebinder ist nicht nur Hydrologe am BFW, er ist auch ein leidenschaftlicher Schitourengeher und sieht sich selbst als Laien. „Experte oder Laie, dem Schnee ist das egal“, beginnt Klebinder seinen Vortrag. „Der Experte kann vermutlich diese Unsicherheiten, die wir in unserem System haben, ein bisschen besser konkretisieren.“

Der Unterschied zwischen Experten und Laien liegt in erster Linie in der Ausbildung und in der Beschäftigung mit den Verhältnissen während der Saison. Der Bergführer beobachtet ständig Wetter und Schneedeckenaufbau, weil es zu seinem Beruf gehört. Der durchschnittliche Schitourengeher ist 18 Tage im Jahr unterwegs und hat nur ein lückenhaftes Bild der winterlichen Gesamtlage.

Klebinder ist daher der Auffassung, dass der Hobby-Schitourengeher nicht in der Lage ist, eine integrale Lawinenbeurteilung zu machen. „Der Laienschitourengeher kann eine Gefahr ohne umfassendes Vorwissen nicht beurteilen. Er kann nur auf Basis von vorhandenen Gefahrenbeurteilungen handeln“, spricht Klebinder den von Profis verfassten Lawinenlagebericht an.

Dieser müsse aber von den Tourengehern gelesen und verstanden werden. Sich nur die Zahl anzusehen, sei zu wenig, im Text stecken viele Informationen, die aber Vorwissen brauchen, um verstanden zu werden. Klebinder appelliert mit seinem Vortrag an die Lawinenwarndienstler, den Bericht mit technischen Hilfsmitteln verständlicher zu machen. Er schlägt vor, die räumliche Ausdehnung der Gefahrenbereiche besser zu visualisieren, etwa mit eingefärbten Bereichen auf einer Landkarte. „Das würde mir als Laien helfen, die komplexen Inhalte des Lageberichtes im Gelände umzusetzen.“

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Bild: Klaus Klebinder

Aus der Sicht des Publikums

Klebinders Vorschlag wurde von den anwesenden Expertinnen und Experten im Publikum diskutiert. Auch die Frage über die Sinnhaftigkeit der fünfteiligen Gefahrenskala wurde debattiert. Die Beurteilung der Lawinengefahr wird zwar mit technischen Hilfsmitteln einfacher. Der Umgang mit diesen Tools setzt jedoch Basiswissen voraus und man muss lernen, damit umzugehen. Am Schluss entscheidet jeder für sich selbst, wie sehr er sich mit dieser Materie befassen möchte.