Schutzwald und Waldboden als Basisversicherung gegen Naturgefahren
Knapp die Hälfte aller Wälder Österreichs hat eine Schutzfunktion. 16 % dieser Wälder gelten als direkte „Objektschützer“. Die Fachleute Michaela Teich und Florian Rudolf-Miklau tauschen sich für die Lichtung über ihre Bedeutung und ihre Fähigkeit zur Regeneration aus.
Lichtung: Könnt ihr euch noch erinnern, was das auslösende Moment für eure Berufswahl war?
Michaela Teich (MT): Ich bin nicht in den Bergen aufgewachsen und habe die Faszination für Schnee und für das Snowboarden spät entdeckt. Weil ich gerne Skitouren gehen wollte, habe ich begonnen, mich mit Lawinen auseinanderzusetzen, um das eigene Risiko besser einzuschätzen. Ich habe dann versucht, in den Bergen zu leben, zu studieren und zu arbeiten. Bei einem Auslandssemester und Praktikum in der Schweiz habe ich gemerkt, dass ich mein Studium der Forstwissenschaften mit meiner Begeisterung für die Berge im Thema Lawinen und Schutzwald kombinieren kann. Es hat sich herausgestellt, dass es eine sehr coole, kleine Community ist, die an diesen Themen arbeitet und die Zusammenarbeit mit Wissenschaftler:innen und Praktiker:innen macht mir sehr viel Spaß.
Florian Rudolf-Miklau (FRM): Mein Urgroßvater, ein gebürtiger Kärntner, war k.k.-Forstmeister in Sarajevo und an der Erschließung der Bosnischen Urwälder für die Holznutzung beteiligt. Man muss aus heutiger Sicht sagen, dass dort vom Menschen stark in die Natur eingegriffen wurde. Ich selbst habe zunächst Forstwirtschaft oder Naturgefahren als direkte Berufswahl gar nicht konkret vor Augen gehabt, sondern bin „mit dem Zeigefinger den Studienplan der BOKU“ durchgegangen. Ich habe mir das Studium quasi nach jenen Fächern ausgesucht, die mich interessiert haben. Ich bin dann dabei auf den Studienzweig Wildbach- und Lawinenverbauung aufmerksam geworden und mir war sofort klar, dass ich das machen muss. Zurückzuführen ist das auf einige Sommer in Tiroler und Salzburger Tälern, wo ich meinen Vater wegen seiner beruflichen Tätigkeit als Vermessungsingenieur in der Landesaufnahme begleitet habe. Da hatte ich viele Eindrücke aufgenommen, was mir gar nicht bewusst war.
Lichtung: Der Schwerpunkt dieser Lichtung ist der Waldboden. Welchen Einfluss hat er bei der Entstehung von Naturgefahren?
MT: Boden mit seinen Beschaffenheiten hat einen großen Einfluss auf die Entstehung von Naturgefahren wie etwa Hochwasser oder Muren. Die Reaktion des Bodens ist stark von seiner Beschaffenheit und von der Intensität und Dauer eines Niederschlagereignisses abhängig. Die Verdichtung und Versiegelung von Böden nehmen dabei eine Schlüsselrolle ein: Je weniger Wasser im Boden versickern kann, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit eines Naturgefahrenereignisses. Auch beim Thema Lawinen hat die Bodenvegetation oder die Rauigkeit der Bodenoberfläche einen Einfluss darauf, ob Lawinen entstehen und abgehen können, auch insbesondere im Zusammenhang mit Gleitschneelawinen. Waldvegetation hat in der Regel einen schützenden Aspekt vor Naturgefahren.
FRM: Ich war vor Kurzem mit einem Kollegen im Defereggental in Osttirol unterwegs. Die größte Sorge des dortigen Gebietsbauleiters ist, dass nach den verheerenden Katastrophen in den Schutzwäldern der Boden durch Erosion verloren geht. Wenn Waldboden da ist, kämpft sich die Natur sofort zurück. Wir haben kürzlich sehr eindrucksvoll gesehen, dass vom Borkenkäfer komplett zerstörte Flächen jetzt schon wieder eine zwei Meter hohe Laubvegetation haben. Der Pionierwald entwickelt sich dort sehr dynamisch. Wir wissen, dass im Schutze dieses Vorwaldes die Baumarten, die im Endbestand relevant sind – also Fichten, Tannen und Lärchen –, nachrücken. In Summe ist die Erhaltung des Bodens im alpinen Raum die wichtigste Aufgabe, die wir zu erfüllen haben, um Schutzwald zu ermöglichen.
Lichtung: Was braucht der Schutzwald, um ihn resilienter machen?
MT: Resilienz ist die Eigenschaft eines Waldes oder eines Systems, sich nach einem Störungsereignis wieder zu erholen und seine Funktionen wieder erfüllen zu können. Um die Resilienz der Wälder zu erhöhen suchen wir oft nach Patentrezepten und schwarz-weiß Lösungen für alle Bestände. Aber bei der Waldbewirtschaftung gibt es das oft nicht, weil diese an den Standort und auch an die Eigentümer:innen angepasst geschehen muss. Im Sinne der Resilienz im Zusammenhang mit dem Klimawandel ist es wichtig, Baumarten- und Strukturvielfalt zu fördern. Aber Struktur- und Baumartenvielfalt kann auch auf Landschaftsebene und nicht nur auf der Ebene des Bestandes betrachtet werden. Anhand des Waldentwicklungsplanes und anderer Informationsquellen wird überlegt, welche Funktionen eines Bestandes am wichtigsten sind, und diese gefördert. Damit können auf Landschaftsebene mosaikartige Strukturen geschaffen werden, die im Ganzen wieder resilienter sind. Zur Anpassung an den Klimawandel arbeitet das BFW an verschiedenen Konzepten, wie zum Beispiel zum Thema Assisted Migration, also Baumarten zu unterstützen, dorthin zu gelangen, wo sie in Zukunft am besten wachsen.
FRM: Resilienz hat nicht unbedingt mit den Funktionen des Waldes zu tun. Das Entscheidende ist primär, dass wir den Wald erhalten. Ich bin der Meinung, dass man den Glauben an die Regenerationskraft und die Widerstandsfähigkeit des Waldökosystems stärken muss, auch die Bedeutung der Naturverjüngung muss wieder stärker in den Fokus rücken.
Lichtung: Die internationale Naturgefahrenkonferenz Interpraevent fand im Juni dieses Jahres statt. Welche Themengebiete haben sich als besonders relevant herauskristallisiert?
FRM: Die Interpraevent ist 1968 als Forschungsgesellschaft aus der Erkenntnis heraus gegründet worden, dass die Zusammenhänge der Katastrophen im Naturraum nicht nur sektoral bedacht werden sollten. Nach den großen Hochwasserereignissen in Kärnten und Osttirol sollte systematisch der Zusammenhang zwischen Wald, Hochwasserabfluss und Erosion untersucht werden. Das war damals ein großartiges Vorhaben. Diese Konferenz hat sich zunächst im Alpenraum etabliert und mittlerweile weltweit ein besonderes Alleinstellungsmerkmal entwickelt. Hier kommen auf internationaler Ebene Wissenschaft und Praxis zusammen und diskutieren die übergreifenden Dinge – wir schaffen dadurch eine einzigartige internationale Vernetzung.
MT: Ich habe ein Augenmerk auf die Beiträge zu Wald und insbesondere zu Schutzwald gelegt. Da gab es aus meiner Sicht nicht unendlich viele, aber sehr wichtige Beiträge. Zum Beispiel zur Hinweiskarte Schutzwald in Österreich oder Decision Support Systems bzw. Werkzeuge, die der Praxis und Politik zur Verfügung gestellt werden. Das Projekt ForSite zum Beispiel analysiert den Einfluss des Klimawandels auf Standortbedingungen.
Lichtung: Wie ist der Stand der KI in Bezug auf Naturgefahren? Kann sie Voraussagen verbessern oder den Schutz unterstützen?
MT: KI kann den Schutz vor Naturgefahren unterstützen. Zum Beispiel wird sie bereits für Prognosen eingesetzt und auch am BFW wird daran gearbeitet, solche Modelle, die auf vielen Datenpunkten beruhen, zu entwickeln und zu verbessern. Aber eine KI kann auch nur so gut sein wie ihre Datengrundlage.
FRM: Ich denke auch an die Kombination von KI mit Messtechnik und Fernerkundung, also hochauflösenden Satellitenbildern, Laserscanning oder Radarinterferrometrie, mit der wir auch kleinste Veränderungen im Naturraum interpretieren und so die Frühwarnung vor Murereignissen und Hangrutschungen oder für die Entwicklungsprognose der Schutzwälder optimieren können. Die aufgenommenen Daten können in Echtzeit von der KI schneller ausgewertet werden und damit die Alarmierung unterstützen.
MT: Allerdings ist es sehr schwierig, Unwetterereignisse im Alpenraum punktgenau vorherzusagen, weil die topografischen Gegebenheiten sehr komplex sind. Wettermodelle für Vorhersagen im Speziellen beziehen sich oft auf großräumigere Bereiche, die die kleinräumigen Topografien gar nicht abbilden können. Da kann es lokal zu großen Abweichungen vom allgemeinen Trend kommen.
FRM: In der Praxis hat sich ein klares Bild zu den kleinräumigen Schauerzellen herauskristallisiert. Diese sind früher natürlich auch aufgetreten. Diese Gewittertürme werden aber durch die stärkere Thermik und Windscherung höher. Was neu für uns ist, ist die Persistenz, also das stationäre Verweilen mancher Schauerzellen an einem Standort. Dadurch entstehen wesentlich höhere Niederschlagsintensitäten. Selbst wenn es eine ganze Gewitterfront ist, weiß man nicht, wo sich diese Schauerzellen bilden werden oder wo sie hinziehen. Sie tauchen plötzlich auf, sie verschwinden wieder, oder sie bleiben einfach stehen. Am Arlberg in St. Anton hat sich im August dies genauso ereignet. Das Einzugsgebiet hat dreimal so viel Sediment geliefert, wie im Gefahrenzonenplan angenommen wurde. Lokale Extremereignisse haben viel mit Zufall zu tun. Wenn man hier in der Prognose was machen kann, dann nur mit wahrscheinlichkeitstheoretischen Ansätzen. Da könnte KI eine Rolle spielen.
Lichtung: Kommunikation auf den verschiedenen Ebenen und zwischen den Organisationen ist hier wesentlich. Wie gestaltet sie sich?
FRM: Wir haben sehr viel Faktenwissen zum Thema Naturgefahren. Das Problem ist, dass die Wenigsten vorhersehen können, was die Medien aus unseren Aussagen machen. Medienvertreter suchen klare „Schwarz-weiß-Aussage“. Das größte Problem, das wir derzeit in der Kommunikation haben, ist, dass es uns nicht immer gelingt, differenzierte Botschaften zu vermitteln. Ich kann nicht sagen: „Es ist zu 80 % gefährlich.“ Es ist einer der größten Denkfehler, anzunehmen, dass die Menschen im Alltag in Wahrscheinlichkeiten denken. Sie wollen vielmehr wissen ob es „sicher“ oder „unsicher“ ist. Es ist daher kaum möglich, so sperrige Begriffe wie Risiko oder Restrisiko schlüssig zu vermitteln.
MT: Ebenso sind Unsicherheiten, die mit jeder Prognose und mit jeder Modellierung verbunden sind, schwierig zu kommunizieren.
FRM: Die meisten Menschen haben natürlich eine innere Abneigung gegen alles, was bedrohlich wirkt. Es gibt hingegen Vorgänge in der Natur, die passieren und auf die man vorbereitet sein muss. Keiner kann sie verhindern, weil sie naturgegeben sind.
Lichtung: Kampagnen wie die „Woche des Schutzwaldes“ können Bewusstsein im Hinblick auf Naturgefahren fördern.
MT: Das ist eine Woche, die vom Bundesministerium für Forst- und Landwirtschaft, Regionen und Wasserwirtschaft initiiert wurde. Innerhalb dieser Woche werden gezielte Aktionen in den Bundesländern und mit den Partnerinstitutionen des BML gesetzt, um das Bewusstsein in der Bevölkerung für die wichtige Leistung, die der Schutzwald für jeden von uns erbringt, zu stärken.
FRM: Die Woche des Schutzwaldes soll einen kleinen Beitrag für das Bewusstsein der Menschen leisten, dass die Natur nicht berechenbar ist und dass man sich an drohende Gefahren anpassen muss.
Michaela Teich hat an der TU Dresden Forstwissenschaft studiert und beschäftigt sich seit ihrer Arbeit am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF in Davos wissenschaftlich mit dem Thema Lawinen und Schutzwald. Nach einem vierjährigen Forschungsaufenthalt an der Utah State University in den USA kam sie zum Bundesforschungszentrum für Wald (BFW) nach Innsbruck.
Florian Rudolf-Miklau hat an der BOKU Forstwirtschaft mit Schwerpunkt Wildbach- und Lawinenverbauung studiert, anschließend ein Doktorats-Studium absolviert und die Lehrbefugnis durch Habilitation erworben. Er arbeitet seit mehr als 30 Jahren bei der Wildbach- und Lawinenverbauung im BML. Er ist Autor zahlreicher Fachbücher und -beitrage, Lektor an der Universität Wien, BOKU und TU Wien und Vizepräsident der INTERPRAEVENT.